TL;DR: Ich verbringe eine Woche mit Radfahren in Colorado. Es ist viel anstrengender als ich erwartet hatte, ich war wohl etwas naiv. Unterwegs treffe ich einige wundervolle Menschen, die mich beherbergen. In Utah sehe ich den Canyonlands-Nationalpark.
Okay, ich habe alles, was ich brauche! Es ist ein logistischer Aufwand, von Backpacking auf Bikepacking umzusteigen. Die Suche nach gebrauchter Ausrüstung ist mühselig, da ich kreuz und quer durch Denver fahren muss. Ausserdem kostete der Versand meines Rucksacks an einen Kontakt in Los Angeles mehr als 80 CHF. Aber ich freue mich darauf, loszulegen. Am ersten Tag habe ich vor, in eine kleine Stadt namens Georgetown zu fahren, die am I-70-Korridor auf dem Weg zum Eisenhower-Tunnel liegt. Am Morgen vorher versuche ich, ein Hostel/Motel/Hotel zu buchen. Ich google und schaue auf ein paar verschiedenen Buchungsseiten nach, aber unter 200 $ (160 CHF) ist nichts zu finden. WAS? In den wenigen Dörfern talauf- und -abwärts gibt es nichts Günstigeres. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dieses letzte Zimmer zu buchen. Zumindest gibt es einen Whirlpool.
Die erste Stunde fahre ich durch die Vororte von Denver, dann in die Berge. Es ist grossartig und ich fühle mich so richtig frei! Doch schon bald wird es auch anstrengend und ich merke, dass ich ausser Form bin. Ich habe vergessen, wie anstrengend Radfahren sein kann, besonders bergauf, besonders mit Gewicht, besonders in grossen Höhen. Nach etwa zwei Dritteln der heutigen Etappe kann ich nicht mehr. Und nehme den Bus. Das fängt ja schon gut an! Am ersten Tag habe ich zwei Lektionen gelernt: Da ich das Radfahren noch nicht so ganz gewohnt bin, muss ich kurze Abschnitte planen, 50-60 km pro Tag. Zweitens muss ich 2-3 Tage vorausplanen, um herauszufinden, wo es günstige Hotels gibt, und wenn möglich die Routen entsprechend gestalten.
Der zweite Tag führt mich über den Loveland Pass (3655 m) und die Kontinentalscheide. Andererseits macht mich die Höhe völlig fertig, was zu häufigen Pausen führt. Beim Velölen brennen meine Beine. Es regnet zeitweise. Warum mache ich das schon wieder? Keine Ahnung. Aber ich fahre Meter für Meter weiter und schaffe es irgendwie bis zum Pass. Die Fahrt nach Silverthorne ist einfach.
Am nächsten Tag fahre ich nach Alma, einem winzigen Dorf am nördlichen Rand von South Park (dem echten 😉 ). Ich fahre fast immer auf normalen Strassen, da es in den USA wenig Fahrradinfrastruktur gibt. Da breite Seitenstreifen die Strasse flankieren, stellt das kein grosses Problem dar, und Autofahrerinnen weichen grosszügig aus. Es gibt wahnsinnig viele Streifen- und Eichhörnchen, die über die Strasse huschen. Ich muss ihnen oft ausweichen. Leider sieht man oft etwas zu Matsch Gefahrenes. Einmal begegne ich einem Rehkopf, der von Ameisen gefressen wird. Das Hostel in Alma beherbergt praktischerweise auch die Dorfbar. Heute Abend ist Karaoke und ich habe Spass mit der örtlichen Karaoke-Szene: Nick, Nina, Tom und Sarah. Nachdem alle ein paar Lieder gesungen haben, endet der Abend mit einem typisch amerikanischen Erlebnis: Wir singen alle gemeinsam das Star-Spangled Banner. Ein stereotyper, absurder und zugleich wunderschöner Moment.
In den nächsten Tagen nähere ich mich langsam, aber stetig Grand Junction, Colorado. Ein weiteres bleibendes Erlebnis habe ich in Crawford. Auch hier gibt es nur ein Restaurant/eine Bar in der Stadt, in dem ich essen gehe. Eine Familie lädt mich ein, bei ihnen zu sitzen, was ich natürlich gerne annehme. Nach ein bisschen Reden beginnen sie, sich gegenseitig mit Essen zu bewerfen. Pommes, Gurken und was auch immer in ihren Burgern enthalten ist. Gleichzeitig essen und reden sie weiter. Ich bin so perplex, dass ich kein Wort rausbringe. Nachdem ich fertig bin, bezahlen sie alles, auch mein Essen, ich bedanke mich und stehe auf. Im Nebenraum gibt es eine Bar mit – Überraschung – Karaoke! Ich singe „Teenage Dirtbag“ von Wheatus, jemand erkennt meinen Schweizer Akzent und lädt mich am nächsten Morgen zum Frühstück ein. Keine Frage gehe ich da hin!
Es handelt sich um eine Schweizerin – nennen wir sie Seraina – die seit 25 Jahren in den USA auf einer Ranch lebt. An der Wohnzimmerwand hängt ein Schild mit der Aufschrift „Aufgrund der zu hohen Munitionskosten werden keine Warnschüsse abgefeuert“. Bei Speck und Kaffee unterhalten wir uns ein wenig über meine Reise, als sie plötzlich fragt, ob ich Roger Köppel kenne. Das sei der beste Schweizer Journalist, sagt Seraina. „Ich glaube alles, was Donald Trump sagt, alles, was Tucker Carlson sagt. Ich bin absolut gegen die Regierung.“ Zwischen unseren politischen Ansichten liegen Welten. Einige Verschwörungstheorien werden erwähnt, z.B. dass 15-Minuten-Städte ein böser Plan der Regierung seien, um allen ihre Autos wegzunehmen und sie dadurch in Ghettos einzusperren. Sie warnt mich auch davor, San Francisco und Los Angeles zu besuchen, weil diese Städte „unter dem Einfluss“ stehen. Das ist krass. Dieses Land ist abnormal gespalten, und es gibt keine Möglichkeit, ein sinnvolles Gespräch zu führen, wenn man sich nicht einmal über die Fakten einig ist. Ich bin froh, diese Begegnung gehabt zu haben und diese Seite Amerikas aus erster Hand erleben zu dürfen. Einer ihrer Freunde kommt und bevor ich gehe, beten sie für meine Sicherheit.
Während einer Rast kommen zwei Damen auf mich zu und fragen mich nach meiner Reise. Theresa und Nancy sind ebenfalls auf dem Weg nach Grand Junction, wo sie sich mit Freunden treffen werden. Ob ich dort schon ein Zimmer gebucht habe? Nein? Nun, sie würden ihre Gastgeber fragen, ob ich auch kommen könnte. Und drei Stunden später bekomme ich eine SMS, dass ich bei ihnen bleiben kann. So cool! Dies stellt sich als einer der Höhepunkte meiner Reise heraus. Die Gastgeber sind Dayna und Mike, die über 30 Jahren in Deutschland gelebt haben und jetzt in Colorado im Ruhestand sind. Wir lachen viel, aperölen, Nancy rackert mit Mike im Garten. Mike hat als Anwalt für die US-Armee gearbeitet und erklärt mir die Grundlagen des amerikanischen Gerichtssystems. Sie sind alle sehr aktiv und wir machen eine Wanderung durch das Colorado National Monument. Währenddessen geht dem Autoschlüssel der Strom aus und es dauert überraschend lange, bis wir herausfinden, wo der physische Schlüssel darin versteckt ist. Wir können nicht aufhören zu lachen, weil alle dumme Sprüche reissen.
In dieser Zeit versuche ich, den nächsten Abschnitt der Reise zu planen. Utah und Nevada sagen jedoch Nein. Wieso? Es ist über 40° C heiss, nichts als pralle Sonne, kein Wasser und laaange Strecken zwischen kleinen Dörfern. Das ist mir zu gefährlich. Ich beschliesse, in ein paar Tagen den Zug nach Kalifornien zu nehmen. Trotzdem möchte ich einen Canyon sehen und miete ein Auto, um nach Moab in Utah zu kommen. Ich lasse mein Fahrrad usw. in Grand Junction.
In Moab kann nicht wirklich rumlaufen, man muss überall hinfahren, weil es so weitläufig ist. Noch ein sehr amerikanisches Erlebnis: Ich kaufe Lebensmittel ein und möchte zum 200 m entfernten Bankomaten. Doch es gibt keine Möglichkeit, die monströse mehrspurige Hauptstrasse zu Fuss zu überqueren. Also steige ich in mein Auto und fahre die 200 m. Der Bankomat ist Drive-In. Hahahaa, Amerika, das ist doch ein Scherz, oder? Leider habe ich die Fotos durch den Überfall verloren.
Den ganzen nächsten Tag erkunde ich den Canyonlands Nationalpark, insbesondere den Island in the Sky District. Vom Ausgangspunkt aus ist es nur noch ein kurzer Spaziergang, bis ich den Rand erreiche und sich die ganze Pracht vor mir öffnet. Was für ein gewaltiger Riss! Im Ernst – der Blick über den Canyon ist atemberaubend. Es ist mit nichts vergleichbar, was ich je gesehen habe. Es ist so schön und beeindruckend, dass es existenzielle Gefühle auslöst. Ich habe das Gefühl, dass dies ein Ort ist, an dem uns die Natur ihre Grenzen zeigt. Es ist eine Landschaft, die nicht für die Besiedlung durch Menschen geschaffen ist. Wir können hier Gäste sein, aber wir können an diesem Ort nicht leben.
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