Am 3. November, einem sonnigen, aber kühlen Freitag in Seoul, betrete ich das chinesische Visazentrum. Es befindet sich in einem Bürogebäude in Jongno, einem der Geschäftsviertel der südkoreanischen Hauptstadt. Keine Ahnung, ob ich überhaupt reingelassen werde, denn ich habe keinen Termin. Die Lobby ist ruhig und die vielen Aufzüge warten geradezu darauf, Menschen zu transportieren. Ich erreiche die Etage des Visazentrums, dessen Tür offensteht. Als ich eintrete, befinde ich mich in einem Büro wie aus dem Bilderbuch: Grauer Teppichboden, kahle Wände, eine untergehängte Decke, weisse Neonröhren. Geradeaus ist ein Empfang, links reihen sich Schalter auf, an denen mit Visabeamten gesprochen wird. Ein paar Kundinnen und Kunden sind hier, aber es ist nicht sehr viel los.
Mein Plan ist es, ohne Flugzeug von Japan nach Hause in die Schweiz zu reisen und nur Fähren, Züge und Busse zu benutzen. Das bedeutet, dass ich China durchqueren werde (in Richtung Kasachstan), und der Visumsprozess ist ziemlich kompliziert. (Nur wenige Wochen später wurde es für viele europäische Bürger vereinfacht, aber damals musste ich das ganze Theater mitmachen). Zuerst gibt’s einen Seelenstrip in einem langen Online-Fragebogen, in dem man persönliche Daten, Familiendaten, seine Jobs in den letzten 5 Jahren, einschließlich der Telefonnummer der Vorgesetzten usw., angeben muss. Danach heisst es, einen Termin im nächstgelegenen Visa Center zu vereinbaren. Man solle bitte alle Hotels schon buchen und Buchungsbestätigungen mitbringen. Gesagt, getan. Ich habe eine Reiseroute für 30 Tage geplant, versucht, eine Fähre zu buchen, war aber gescheitert, und alles ausgedruckt. Leider funktionierte dann der Button zum Buchen eines Termins nicht (er war grau und nicht anklickbar). Haha, echt jetzt? Alles umsonst? Ich hätte gleichzeitig lachen und schreien können. Nach einem hässigen Spaziergang draussen beschloss ich, am nächsten Tag einfach zum Visa Center zu gehen und zu sehen, was passiert.
Da bin ich also. „Sie benötigen keinen Termin, sondern können direkt zum Schalter gehen. Haben Sie die Hotelbuchungen?“, sagt das Empfangspersonal. Oh! Eine Überraschung, aber immerhin eine positive. Ich werde zu Schalter 3 geführt, wo eine Dame schon auf mich wartet. Sie prüft meine Buchungen und den Fragebogen. „Danke, aber wir brauchen noch ein bisschen mehr. Bitte dieses Formular ausfüllen.“ Sie gibt mir ein Papier mit einer Tabelle. Dort soll ich genau aufschreiben, was ich alles plane – z.B. „Am ersten Tag besuche ich Museum A und Markt B, am zweiten Tag mache ich einen Tagesausflug in die Stadt C“ und so weiter und so fort. Ich frage sie: „OK, aber muss ich für alle diese Aktivitäten im Voraus Tickets kaufen?“ „Wir verstehen, dass Sie nicht ganz alles buchen können, aber je mehr, desto besser.“ Im Klartext heisst das: „Wir wollen Beweise, dass du machst, was du da draufschreibst.“
Ich merke, wie es mir innerlich ablöscht. Eine detaillierte Reiseroute für 30 Tage, Tickets für jeden einzelnen Gugus, manchmal mehrere pro Tag? Selbst wenn es möglich wäre, alles wieder zu stornieren, sobald ich drin bin, wäre das eine wahnsinnige Arbeit (versuch mal, ein paar Aktivitäten oder einen Zug in China zu buchen. Ruckzuck landest du auf einer nur in Chinesisch verfügbaren Website voller Fehlermeldungen und defekter Links. Nicht, dass es in anderen Ländern besser wäre, aber dort muss man wenigstens nicht alles schon fürs Visum buchen und kann’s dann vor Ort erledigen). Ich verstehe, dass sie Belege für Hotelbuchungen und die Ausreise benötigen. Aber für JEDEN VERDAMMTEN SCHRITT? Nein danke.
Naja, das ist also gescheitert. Und damit auch die Möglichkeit, mit der Bahn nach Hause zu kommen. Die nächsten Tage verbringe ich damit, nachzudenken, was ich jetzt tun soll. Am Ende werde ich mich entscheiden, unter die feiernden Rucksacktouristenmassen zu gehen und nach Südostasien zu reisen.
Korea verlasse ich mit gemischten Gefühlen. Einerseits waren die Leute, die ich in den Hostels antraf, allesamt starke, interessante Persönlichkeiten. Andererseits fand ich Korea für Reisende weniger zugänglich als Japan. Normalerweise habe ich keine Probleme, interessantes Zeugs zu finden, aber irgendwie habe ich in Korea Schwierigkeiten. In Tokio oder Osaka kam ich ständig an irgendwas Memorablem vorbei. Sehenswürdigkeiten, Vintage Shops, Restaurants oder abwechslungsreiche Viertel (z. B. Akihabara in Tokio) gab’s wie Sand am Meer. Seoul empfand ich als weniger pulsierend. Außerdem waren die Strassen in Tokio stärker bevölkert. Natürlich gab belebte Orte wie Itaewon, keine Frage, aber in der Stadt herrschte im Allgemeinen eine relativ kühle Atmosphäre. Vielleicht liegt’s am Wetter? Den allgegenwärtigen Wohntürmen, auf die die Koreanerinnen und Koreaner so abfahren? Ich liebe Wolkenkratzer. Eigentlich. Hier ist die Monotonie aber wirklich erdrückend.
Ich bereue überhaupt nicht, dorthin gegangen zu sein. Aber nicht jedes Land passt zu einem, und das ist auch gut zu wissen. Andere hatten viel Spass in Südkorea, waren schon zum zweiten Mal dort oder dachten gar darüber nach, dorthin zu ziehen. Ich bin fern von einem allgemeinen „Südkorea = schlecht“. Nur, dass es für mich nicht funktioniert hat.
Dennoch gibt es natürlich einige Geschichten zu erzählen. Ich habe im Time Travellers Hostel in Hongdae übernachtet (als Party-Hostel beworben, aber nein, nicht wirklich). Und die Menschen, die ich dort traf, waren unglaublich. Von einer Anwältin, die minderjährige Drogenstraftäter in Paris verteidigt, über einen Velöler, der China mit dem Drahtesel durchquert hat, bis zu einem Apple-Hardware-Ingenieur aus Colorado, der auch gut im Tricking ist (ja, Tricking. Das ist dänk ein Sport, du Banause). Alle machen sie bei und neben der Arbeit ihr Ding und das ist wahnsinnig inspirierend.
Eines Abends geben zwei Amerikaner ein kleines Konzert (nur Gitarre und Gesang) in der Kellerbar des Hostels. Die beiden kennen sich von der Arbeit in Alaska. Was haben sie dort getrieben? Nun, sie arbeiteten beide als Softwareentwickler, fanden aber keine Erfüllung in der Branche. Nach ein paar schmerzhaften Jahren, die sie in einem Kreislauf aus unaufhörlichem Grübeln, Langeweile, geringem Selbstwertgefühl und „naja, eigentlich ist es gar nicht so schlimm, oder?“ verbrachten, kündigten sie ihre Jobs und gingen zum US National Park Service. Jede Saison halten sie sich etwa acht Monate lang in einem der zahlreichen Nationalparks auf und haben wenig Kontakt zur Außenwelt. (Sie sprechen in den Parks sogar von „dem Reich“ und „der realen Welt“). Ziemlich radikaler beruflicher Wandel. Sie bringen eine Geschichte nach der anderen darüber, was passiert, wenn eine Gruppe von Menschen eine Saison in einer abgelegenen Gegend verbringt. Anscheinend geht’s beim Dating ab wie im Gymnasium und jeder weiss, wer in der letzten Nacht was mit wem gemacht hat 😀
Später gehen wir in Seoul aus. Die Türsteher wollen uns zunächst nicht reinlassen. Sind wir schon so betrunken? Ich glaube nicht… Oder doch? Auf jeden Fall bestehen sie unerbittlich darauf, dass wir uns dort benehmen sollen. Und, mit einem scharfen Blick auf die Männer in unserer Gruppe, dass wir Koreanerinnen, „insbesondere Frauen“, nicht belästigen. Wir sind alle ein bisschen verblüfft darüber, denn so drauf sind wir nun wirklich überhaupt nicht… Wahrscheinlich haben sie in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Ausländern gemacht. Wir können rein, aber es ist fast leer und nach einer Stunde gehen wir wieder.
Mittlerweile regnet es wie verrückt. Ein paar Blocks weiter tragen Türsteher einen betrunkenen Mann aus einer Tür und legen ihn im Regen am Straßenrand ab. Der Typ liegt auf dem Rücken – uuups. Wenn er erbricht, könnte er ersticken. Die Türsteher sind ein bisschen hilflos und wissen nicht, ob sie ihn im Regen lassen sollen oder nicht. Nach etwa zwei Minuten verschwinden sie ohne weiteres Zutun. Das kann ich nicht so stehenlassen. Nachdem ich überprüft habe, ob er atmet, rolle ich ihn in die Seitenlage, und kurz darauf beginnt er zu erbrechen. Eine aus unserer Gruppe ruft einen Krankenwagen, der schnell eintrifft. Nochmal Glück gehabt. Der Kater muss grausam gewesen sein.
Ausserdem werde ich zum Essen im Restaurant der Eltern meiner Freundin Ayoung eingeladen, und das ist wirklich, wirklich lecker. Mir wird Reis serviert. Und Kimchi. Und Teriyaki. Und mehr. Und noch mehr, auch als ich andeute, dass ich langsam platze. Ich konnte den Nahrungsfluss einfach nicht stoppen und habe weit über meine Grenzen gegessen. Danach fühlte ich mich schrecklich. Aber es hat sich absolut gelohnt. Danke!
Zum Schluss noch einige Bilder und Videos.
Militärparade? Nein, hier feiert sich einfach nur die Apfelbranche auf Koreanisch.