TL;DR: In San Francisco werde ich ausgeraubt. Dieser etwas längere Post beschreibt den Überfall selbst, das Prozedere zur Rückgewinnung der Karten und Dokumente sowie die sonstigen Ereignisse während dieser Zeit.
Teil 1: Der Überfall
Es ist 2 Uhr morgens. Ich irre im dunklen, desolaten San Francisco umher, um mich herum Totenstille. Gerade wurden mir das Portemonnaie und das Handy abgenommen, und ich weiss den genauen Weg nach Hause nicht mehr. Ich bin voll auf Adrenalin.
Knapp 30 Stunden zuvor komme ich am Donnerstagnachmittag, 24. August, in Sacramento, der Hauptstadt Kaliforniens, an. Ich kann bei Daynas Stiefbruder Morgan und seiner Familie übernachten. Femke, die Freundin des Sohnes, nimmt mich am nächsten Tag mit nach San Francisco, denn dieser Abschnitt wäre vor allem Autobahn gewesen. Nur die letzten 50 km fahre ich auf dem Velo. Via Golden Gate Bridge erreiche ich die Stadt. Schon auf dem Weg zu Femkes Wohnung kommt mir San Francisco seltsam ruhig vor. Die Strassen sind fast leer, es gibt praktisch keine Fussgänger und auch nur wenig Verkehr. Die viktorianischen Häuser mit unzähligen süssen Erkern sind zwar wunderschön, aber viele wirken unbewohnt, leicht verlottert. Ich lade mein Fahrrad bei Femke ab, die mich ein paar Nächte beherbergen wird – danke vielmal!
An diesem ersten Abend, 25. August, gehe ich in Castro aus, dem queeren Nightlife-Zentrum von San Francisco. Um etwa 01:45 entscheide ich mich, nach Hause zu gehen. Der Heimweg ist rund 2 km lang und ich denke mir, das kann ich gut laufen. Ausserhalb der wenigen Hotspots des Nachtlebens ist in San Francisco absolut niemand auf den Strassen, auch keine Autos, ich bin völlig alleine. Mir ist zwar nicht besonders wohl, aber ich tue es als Hirngespinst ab. Was soll schon passieren?
Kurz nach einer Strassenkreuzung bleibe ich stehen und schaue auf dem Handy, ob ich noch richtig bin. Rechts ist eine Hauswand, links das Trottoir. Mir kommt jemand entgegen, den ich aus dem Augenwinkel wahrnehme. Drei Meter vor mir zückt dieser Jemand eine Pistole und richtet sie auf mich. «Ich mache keine Witze – gib mir dein Zeug». Eindeutig eine männliche Stimme. Er positioniert sich so, dass die Wand in meinem Rücken ist und er frontal vor mir steht. Die Pistole ist auf meine Brust gerichtet, nur 30 cm trennen mich und die Mündung. Das Handy nimmt er mir aus der Hand. «Gib mir dein Portemonnaie und die Kopfhörer». Ich gebe ihm die Sachen. Er sagt noch einmal «ich mache keine Witze, ist das alles?». Ich sage «du kannst meine Taschen durchsuchen», worauf er beide Hosentaschen abtastet und dann davonrennt. In die Richtung, in die ich gehen müsste.
Das Ganze dauerte nicht einmal eine Minute. Es war auf jeden Fall ein Mann, der Stimme nach vermutlich unter 40, er hatte ein Cap und darüber einen Kapuzenpulli an. Wegen der Dunkelheit konnte ich vom Gesicht kaum etwas erkennen. Äusserlich blieb ich ruhig. Da ich unter Schock stand, spürte ich in dem Moment auch keine Angst, sondern machte einfach. Der Typ war sehr nervös, so dass die Waffe zitterte, das war das Schlimmste. Ich dachte nur, hoffentlich löst sich kein versehentlicher Schuss, hoffentlich kein Schuss…
Da bin ich also, in einer toten Ecke einer fremden Stadt um 2 Uhr morgens, orientierungslos und ohne Möglichkeit, jemanden anzurufen. Eine schreckliche Situation. Ich will dem Typen auf keinen Fall wieder begegnen, also laufe ich in eine Seitenstrasse. Natürlich weiss ich schon bald nicht mehr ganz genau, wo ich bin. Ich irre umher, kann nicht stehen bleiben, sondern laufe und renne immer weiter. Grob in Richtung von Femkes Wohnung, aber ohne zu wissen, wie weit es noch ist oder ob ich vielleicht sogar schon an der Gegend vorbeigerannt bin. Es ist düster. Nach den zwanzig längsten Minuten meines Lebens treffe ich endlich auf jemanden, den ich frage, wo die Adresse soundso ist. Er zeigt mir auf der Karte den Weg; zum Glück bin ich nicht so weit weg von zu Hause. Fünf Minuten später bin ich da. Den Schlüssel hat der Räuber nicht bemerkt. Ich bin in Sicherheit.
Teil 2: Aufräumen
Auf solch einen Überfall, oder auch einen Verlust des Portemonnaies, folgt eine Zeit, in der man alles wieder mühselig zurückbekommen muss. Im Folgenden eine detaillierte Beschreibung der Arbeit, die der Vorfall verursacht hat.
Als Erstes muss ich sofort die Karten sperren und klingle den Nachbarn aus dem Schlaf. Mit seinem Telefon versuche ich die ZKB anzurufen, aber gebe nach 10 Minuten in der Schlaufe auf. Danach rufe ich mit meinem Laptop meine Eltern an und erzähle, was geschehen ist. Sie wiederum rufen der Bank an und versuchen, meine Karte zu sperren. Das gehe nur, wenn ich mich selbst melde. Also stellen sie sowohl das iPhone, das mit mir verbunden ist, als auch das Festnetztelefon auf laut und so spreche ich quasi via Wohnzimmer in Fehraltorf mit der Bankangestellten. Dieses Prozedere wiederholen wir mehrfach. Nachdem wir zum Schluss noch einmal ausführlich über den Vorfall gesprochen haben, kann ich das erste Mal durchschnaufen.
Inzwischen sind Femke und ihre Mitbewohnerin heimgekommen und haben einen feinen Tee gemacht. «Wir werden dir morgen helfen, alles wiederzubekommen». Ich gehe schlafen, was erstaunlich gut geht. Am nächsten Morgen mache ich eine Auslegeordnung: Alle Zahlkarten, die ID und der Führerschein sind weg. Ebenso mein Handy mit der amerikanischen und der Schweizer SIM. Den Pass hatte ich zum Glück nicht dabei. Der Verlust des Handys bedeutet aber, dass ich mich an diversen Orten nicht mehr einloggen kann: Bankkonto, WhatsApp, Telegram, Krankenkasse, selbst eine meiner Mailadressen. Somit habe ich gerade keine Möglichkeit, an Geld zu kommen.
Papa überweist Femke 1000$ per PayPal, die sie mir in bar gibt. Überhaupt ist Femke sehr hilfsbereit und fährt mich den Samstagvormittag lang in der Stadt herum. Wir gehen zur Polizei, kaufen ein gebrauchtes iPhone bei BestBuy und können die amerikanische SIM ersetzen. Ansonsten ist mal Abwarten angesagt.
Am Montag gehe ich für die ID aufs Schweizer Konsulat. Dort wird mir gesagt, ich müsse mich bei meiner Wohngemeinde, aktuell Fehraltorf, melden. Nur diese könne beim Kanton einen ID-Antrag stellen; dieser Antrag könne dann ans Konsulat transferiert werden. Als ich in New York eine US-SIM gekauft habe, habe ich natürlich das günstigste Angebot genommen und kann leider nicht ins Ausland anrufen, was sich jetzt rächt. Ich schreibe deshalb eine E-Mail und höre ein paar Tage später von einer kantonalen Stelle zurück, dass das leider nicht gehe. IDs können im Kanton Zürich nur vor Ort gemacht werden. Na, dann nicht.
In der Zwischenzeit hat mir Noah, ein guter Freund von der ETH, seine Kreditkartendaten geliehen. Um die Karte zu Apple Pay hinzuzufügen, leitet er mir ein SMS weiter, in dem steht, man solle die Nachricht auf keinen Fall mit jemandem teilen. Dadurch bin ich wieder in der Lage, Buchungen im Internet zu machen und kann auch im Supermarkt bezahlen.
Nach und nach kommen die neu bestellten Karten und die Ersatz-SIM bei meinen Eltern in der Schweiz an. Eine Woche nach dem Überfall verschicken sie alles nach Kalifornien (ich bin inzwischen in einem Städtchen namens Monterey, wo ich warten werde). Für den Superexpressversand bezahlt Mama unglaubliche 100 CHF, obwohl es nur ein Brief ist. Dafür sollte er bis spätestens Mittwoch, 6. September, ankommen, eher früher. Es kommt jedoch nichts und auch am Donnerstag herrscht gähnende Leere im Briefkasten. Was ist da los? Tracking bei der Schweizer Post ist halb-hilfreich: Zwar ist der Brief schon am Sonntag in «UNITED STATES CENTRAL» angekommen – das war schnell. Danach steht jedoch nur noch «Sendung wurde weitergeleitet – UNITED STATES CENTRAL». Fünfmal exakt derselbe Eintrag, dann einer mit «documents needed». Offenbar harzt es irgendwo, aber was das Problem ist, ist nicht klar. Was für Dokumente? Wo ist der Brief genau? Der Link «Sendungsverfolgung im Ausland» führt zur Website von TNT. Dort funktioniert jedoch die Trackingnummer nicht. Ich finde eine Telefonnummer von TNT, doch sie ist nicht erreichbar. Verdammter Mist! Ich könnte schreien. Für heute gebe ich frustriert auf.
Am Freitag schreibe ich eine E-Mail an TNT. Auf diese werde ich nie eine Antwort bekommen. Allerdings finde ich nach etwas googeln heraus, dass TNT von FedEx gekauft wurde und jetzt in FedEx integriert wird. Die Trackingnummer funktioniert auch bei FedEx nicht, doch als ich dort anrufe und ein paar Mal herumgereicht werde, habe ich tatsächlich mehr Glück. Der Brief sei beim Zoll hängengeblieben und werde zusammen mit der normalen Post bearbeitet, das dauere manchmal. Aber sie sehe, dass er inzwischen durchgekommen sei. Wie war das nochmal mit «documents needed»? Das wisse sie auch nicht. Er sei durch den Zoll. Am Samstag dann tatsächlich eine neue Meldung. «Sendung wurde weitergeleitet – UNITED STATES PACIFIC». Und am Abend steht bereits «Monterey Ship Center». Wuhuuu!
Die nächste Zustellung ist am Montag. Als ich aus Langeweile nachschaue, wo FedEx in Monterey eigentlich ist, falle ich fast vom Stuhl: Eines der beiden Ship Centers ist direkt unter mir, im selben Gebäude. Warum habe ich das die ganze Zeit nicht bemerkt? Höchstwahrscheinlich sitzt mein Brief also nur ein paar Meter tiefer in irgendeinem Schrank, während ich zwei weitere Nächte Däumchen drehen muss. Ist das nicht absurd? Als ich Ryan davon erzähle, brechen wir beide in einen Lachanfall aus. Es fühlt sich an, als löse sich die ganze Spannung der vergangenen Tage.
Die letzten zweienhalb Wochen waren mühselig: herumtelefonieren, warten, Mail schreiben, warten und noch einmal warten. Ich bin dankbar, dass mir nichts passiert ist. Trotzdem möchte ich so einen Überfall nie, nie mehr erleben. Zumindest lerne ich ein paar Dinge: Ich werde in Zukunft mindestens eine Kreditkarte woanders als im Portemonnaie aufbewahren. Wenn ich eine lokale SIM-Karte kaufe, dann lagere ich die Schweizer SIM ebenfalls an einem sicheren Ort. Ausserdem mache ich öfter Backups. Und was TNT/FedEx angeht: Sorry, 100 CHF für diese Schneckenbehandlung, das ist zu viel.
Teil 3: Was sonst noch passiert ist
Am Montag, 11. September habe ich meine Karten zurück (abgesehen vom Fahrausweis, der noch nicht in Fehraltorf angekommen ist). Bis hierhin war ich zwar eingeschränkt, aber natürlich nicht komplett untätig.
In San Francisco fühle ich mich trotz der Gastfreundschaft Femkes nicht mehr wohl und verlasse die Stadt drei Tage nach dem Überfall. Ein Kollege, der im Labor gearbeitet hat, wo ich die Masterarbeit machte, studiert jetzt in Stanford, was ganz in der Nähe liegt. Er bietet mir an, mich eine Weile aufzunehmen. Das nehme ich natürlich gerne an. Auf der Velofahrt dorthin komme ich in eine ziemlich heruntergekommene Gegend. Sofort fühle ich mich wieder unsicher und kehre um. Das ist eine Kombination aus zwei Sachen. Einerseits gibt es in den USA überall verstreut Viertel, die auf eine Art bedrohlich wirken, wie ich es in Europa so nicht erlebt habe. Als Velofahrer oder Fussgängerin bist du in den USA sowieso etwas einsam, hier erst recht. Kein Mensch zu sehen, vielleicht fährt mal ein Auto durch. Ansonsten ist es totenstill. Geschäfte stehen leer, Graffiti, manche Häuser wirken verwaist, einzelne Scheiben kaputt. Wenn dir hier was passiert, bist du einfach allein. Das Verrückte ist, dass diese Gegenden manchmal nur zwei, drei Strassen von einem belebten Hotspot entfernt beginnen. Ich kann mir diese scharfe Grenze nicht erklären. Und: Die Locals wissen, wo es okay ist und wo nicht, aber als Outsider bist du aufgeschmissen. Auch vor dem Überfall bin ich mehrfach in Gegenden geraten, wo ich meinen Schritt beschleunigt habe.
Andererseits hat meine Erfahrung natürlich schon einen Nachhall. Ich werde vorerst sehr viel vorsichtiger. Schaue öfter über die Schulter. Werde die nächsten zwei Wochen in der Nacht nicht mehr rausgehen. Mit der Zeit lässt es etwas nach und ich kann die Tage wieder unbeschwert geniessen, doch die Erfahrung bleibt in den Knochen. Auch vier Wochen später, fühle ich mich in Los Angeles in der Nacht nicht sicher und gehe nur in die Bar um die Ecke. Ich bin gespannt, wie es in Japan sein wird. In belebten Vierteln sollte es kein Problem sein.
Jedenfalls, ich gehe mit dem Zug zu meinem Kollegen. Er ist Untermieter bei einer schrulligen alten Dame, die Katzen über alles liebt. Zwei Stunden nach Ankunft sagt sie mir plötzlich, dass sie gerne 60$ pro Nacht hätte. Das kommt unerwartet – da hätte ich vorher besser nachfragen müssen. Ich möchte nicht undankbar sein, aber für 60$ kann ich auch in ein Hostel am Meer gehen. Gefallen hat es mir nämlich nicht wirklich. Es ist ein kleines Haus, an sich schnuckelig, aber der Garten ist völlig verwildert und beginnt das Haus zu überwachsen. Und dann das Bad: Ein Katzenklo okkupiert die Badewanne, weswegen diese mit Kacke verschmiert ist. Es stinkt. Am Boden liegt vereinzelte Katzenstreu. Nein, danke. Wie mein Kollege das macht, ist mir ein Rätsel. Ich bleibe zwei Nächte, bis ich die Weiterreise geplant habe.
Mit Bus und Velo gehe ich nach Monterey, wo ich in einem Motel schlafe und dann – via Grindr – Ryan kennenlerne. Ryan baut in Monterey ein Hostel und hat ein Kajütenbett in seinem Arbeitszimmer. Bis der Brief da ist, lässt er mich bei sich wohnen. Das ist der Hammer, dafür bin ich zutiefst dankbar. Es fühlt sich fast ein bisschen wie eine WG an.
Danach gehe ich mit dem Zug weiter nach Santa Barbara und fahre von dort nach Los Angeles, wo ich mein Fahrrad verkaufe. Ein paar Nächte verbringe ich im Hostel. Die letzten Tage in den USA wohne ich bei Jan, einer Freundin von Papa. Sie sind früher zusammen gereist. Ein letztes Mal senkt sich die Sonne in den Pazifik, während die Brandung unablässig gegen die Felsen schlägt. Ein schöner Abschluss.
Joggen am Ozean – so was von schön:
Velofahren in Kalifornien be like